Hintergrund zu den Wettbewerben

In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts betreten neue Medienunternehmen den deutschen Markt. Sie heißen Neuer Deutscher Verlag, Universum Bücherei, Weltfilm oder Prometheus/Meshrabpom. Sie publizieren Bücher und Filme. Sie sichern ihren Vertrieb bzw. Verleih. Es erscheinen Illustrierte und Tageszeitungen. Diese heißen u.a. `Sowjetrussland im Bild`, `Hammer und Sichel`, `Der rote Aufbau` `ArbeiterIllustrierteZeitung` (AIZ), `Berlin am Morgen`, Welt am Abend`, `Eulenspiegel` oder `Der Arbeiterfotograf`. Sie sind von Willi Münzenberg, Generalsekretär der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), initiiert und begründet. Sie erkennen die rasanten Entwicklungen der Massenkommunikation, setzen auf technische Innovation und verstehen sich als Mittel der politischen (proletarischen) Agitation und Propaganda. Sie stellen sich in direkte Konkurrenz zu den marktbeherrschenden bürgerlichen Zeitungs- und Buchverlagen bzw. den entstehenden und wachsenden Filmgesellschaften. Sie sind eine Kampfansage an die aufsteigende faschistische Bewegung und ihre Presse. Sie sind aber auch eine Konkurrenz für die Verlage von SPD und KPD sowie kleinere andere linke Verlage. Sie erlangen Marktanteile, gewinnen unterschiedlichste Autoren und Verbündete, prägen mit ihrer Gestaltung eine neue proletarische Ästhetik, schaffen ein eigenes Vertriebsnetz von Kolporteuren, veröffentlichen Anzeigen, importieren Filme oder führen Matineen für ihre Leser auf. Sie sind eng mit der Arbeit der IAH verbunden. In ihrem Umfeld entstehen neue Organisationen. Sie werden als Münzenberg-Konzern von rechts denunziert und von links in Verbreitung, Inhalt, Gestaltung und Wirkung beargwöhnt. 1933 werden alle Verlage, Zeitschriften, Zeitungen und sonstigen Organisationen der Internationalen Arbeiterhilfe in Deutschland verboten.

Benütze Foto als Waffe! Erobert den Film! Nehmt Scheren!

So heißen die drei Preise der künstlerischen Wettbewerbe in den Kategorien Foto, Film und Collage, die das MÜNZENBERG FORUM BERLIN im FMP1 seit 2016 auslobt

Ihre Namen sind eine Referenz an diese Medienunternehmen. Eine Referenz an die von diesen geprägte Tradition der Information, Aufklärung und künstlerischen Gestaltung mit Hilfe von Fotografie, Bewegtbild und Bild-Text-Montage.

Benütze Foto als Waffe!

Der Titel geht auf eine von der AIZ 1927 mitbegründete Bewegung zurück – die Vereinigung der Arbeiter-Fotografen. Im Frühjahr 1929 heißt es in einem Bericht der AIZ zum bevorstehenden Kongress: `Die Welt ist nicht nur schön, die Welt ist für die meisten ihrer Bewohner in Schatten gehüllt, ihr Leben ist Sorge und Not, Gegensatz und Kampf… Wir machen keine Zeitung zum Vergnügen und zum Geldverdienen, und die Arbeiter-Fotografen haben sich nicht organisiert, um ein besseres Bild von der Großmutter machen zu können… der fotografische Apparat in der Hand des Arbeiters (ist) eine starke Waffe im Kampf um die Aufklärung der Massen.` Hier entspringt letztlich der Aufruf `Benütze Foto als Waffe`. Im Vorstand der Vereinigung saßen auch WILLI MÜNZENBERG und BABETTE GROSS, die Lebensgefährtin MÜNZENBERGS und Verlagsleiterin des NEUEN DEUTSCHEN VERLAGS.

Erobert den Film!

Im Frühjahr 1925 veröffentlicht MÜNZENBERG einen gleichnamigen Artikel. Im Mittelpunkt seine Forderung, das neue Medium der laufenden Bilder für die politische Arbeit zu erschließen. Im Aufsatz heißt es: `Die revolutionäre Arbeiterbewegung hat deshalb das größte Interesse, diesem überaus wichtigen Problem größte Aufmerksamkeit zu schenken und Mittel und Wege zu suchen, um dieses wirkungsvolle, lebendige Mittel der Propaganda und Agitation in ihren Dienst zu stellen.` Bereits 1921 als die IAH als `Hilfe für Sowjetrussland` gegen den Hunger entsteht, setzt MÜNZENBERG zur Aufklärung und Mobilisierung auf bewegte Bilder. In den folgenden Jahren geht es darum, Filmen aus Sowjetrussland in Deutschland die Erstaufführung zu ermöglichen – darunter `Panzerkreuzer Potemkin` von Eisenstein – und eine eigene proletarische Filmkultur zu entwickeln. Prometheus/Meshrabpom wird gegründet. Ihren Höhepunkt, der sich gleichzeitig mit dem wirtschaftlichen Scheitern in Deutschland verbindet, erreichen diese Bemühungen mit der Produktion des Tonfilms `Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt` in Zusammenarbeit mit BRECHT und EISLER. Prometheus geht in Insolvenz und der Film muss von einem anderen Unternehmen fertiggestellt werden. Meshrabpom besteht noch bis zu ihrer Auflösung 1936 in der Sowjetunion fort.

Nehmt Scheren!

Im Sommer 1929 beginnt die kontinuierliche Arbeit von John HEARTFIELD für den Neuen Deutschen Verlag. Es erscheint `Deutschland, Deutschland über alles…` mit Texten von Kurt TUCHOLSKY in seiner Gestaltung und mit seinen Bildern. Parallel dazu beginnt seine Arbeit für die AIZ. Seine Montagen und Collagen werden in der Folgezeit bis zum Ende ihres Erscheinens im Prager Exil 1938 zu ihrem Markenzeichen. HEARTFIELD gehört ab 1916 mit George GROSZ, und später 1920 mit Raoul HAUSMANN, Hanna HÖCH, Rudolf SCHLICHTER und Johannes BAADER zu den Künstlern, die als Dadaisten die Montage von Fotos und Texten als ihr politisches und künstlerische Ausdrucksmittel entwickeln. Der Malik Verlag unter Wieland HERZFELDE gibt ihren Scheren Öffentlichkeit. Bereits seit Erscheinungsbeginn 1924 setzt die AIZ Bild- und Textmontage als Mittel ihrer Gestaltung ein und knüpft damit an DaDa an. Mit dieser Ästhetik erreicht sie Aufmerksamkeit, destruiert Bilder, montiert Zusammenhänge neu und gewinnt eine stetig wachsende Zahl von Lesern.

Benütze Foto als Waffe! Erobert den Film! Nehmt Scheren!

Die Wettbewerbe richten sich an junge Künstler_innen, die unter den heutigen Bedingungen die Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden und sich dynamisch entwickelnden Medien als Mittel ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen einsetzen.

Diejenigen, die vor fast 100 Jahren für die genannten Medienunternehmen tätig waren, dort ihre Texte, Bilder und Filme veröffentlichten oder aufführten, waren junge Menschen, zu diesem Zeitpunkt zwischen zwanzig und Mitte dreißig. Sie entstammten der Generation, die auf den Schlachtfeldern des I. Weltkrieges verheizt worden war. Sie setzten ihre Hoffnungen auf die Oktoberrevolution und den neuen Staat Sowjetrussland. Sie erlebten die Novemberrevolution, ihre Niederlage und die anschließende Restauration von deutschem Nationalismus und Militarismus sowie den aufkommenden Faschismus.

Sie brachen mit den tradierten Kunstformen, zerstörten Kunstbegriffe und wandten sich an die bis dato von der bürgerlichen Kunst ausgeschlossenen Massen als ihre Rezipienten. Sie wurden zensiert, verboten und gerichtlich verfolgt.

Sie schufen bahnbrechende historisch-kulturelle und künstlerische Referenzmuster, deren Ausbreitung durch die Errichtung des Faschismus in Deutschland jäh abgebrochen wurde und deren Existenz wie die Erinnerung an diese ausgelöscht werden sollte.

Benütze Foto als Waffe! Erobert den Film! Nehmt Scheren!

Ohne Texte, Bilder, Filme, Collagen, Kunstmappen, Matineen und Theateraufführungen – kurz ohne ihre multimedialen Unternehmungen hätte die Internationale Arbeiterhilfe, die sich in den zwanziger Jahren über alle Kontinente ausbreitete, nicht ihre Entwicklung zur größten multinationalen Solidaritätsorganisation der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts über Grenzen und Trennendes vollziehen können. Es entstand mit ihnen eine Sprache, die weltweit verstanden wurde.

Wer sich wie das MÜNZENBERG FORUM BERLIN im FMP1 heute mit den der Geschichte dieser Organisation und ihrem Initiator, Willi MÜNZENBERG, auseinandersetzt und hier nach Ansätzen für die Lösung heutiger gesellschaftlicher Widersprüche sucht, kommt an den Autoren, Fotografen, Filmemachern, Schauspielern, Künstlern und anderen Protagonisten nicht vorbei.

Er muss sich auf die Suche nach den, der künstlerischen Auseinandersetzung mit den realen Verhältnissen innewohnenden Potentialen für deren Veränderung begeben.

Das will das MÜNZENBERG FORUM BERLIN im FMP 1 mit ihren Wettbewerben tun.