Wie die Moderne zum Äquator kam
Schillernd ist der Titel unserer aktuellen Ausstellung: Die Tropische Moderne – Wie erreichte jene Architektur den Äquator? Die Bilderschau des Fotografen Jean Molitor erlaubt einen Blick darauf, wie eine stilistisch weit weitgefasste, sich avantgardistisch verstehende architektonische Haltung die Welt eroberte. Zur Eröffnung war der Kunsthistoriker Andreas Butter geladen. Aus seiner Einführung sollen hier einige Gedanken wiedergegeben werden.
Der Begriff der „Moderne“ beschreibt mehr als nur eine Form. Lange war er mit dem Abschied von den Beschwernissen der Vergangenheit, mit freiem Denken und guten Lebensbedingungen für alle assoziiert. Dies galt insbesondere für die 1960er-Jahre, als sich die Vorstellung des Fortschritts besonders prägnant in breiten Fahrstraßen, Hochhäusern, in der Raumfahrt und der Popkultur zeigte – und, in unseren Breiten – in ferngeheizten Wohnungen für die Kleinfamilie.
Diese optimistische Deutung ist inzwischen ins Wanken geraten. Dazu trugen multiple Krisen bei: die Systemkrisen des Kapitalismus und Sozialismus, eine Rückkehr des Antimodernen in Form von wiedererstarktem Faschismus, Anarchokapitalismus und religiösem Fundamentalismus. Zum Überdruss trug nicht zuletzt der rabiate Umgang der Nachkriegsjahrzehnte mit Geschichtszeugnissen bei. Auch die Versprechungen der technischen Moderne stehen inzwischen auf unsicheren Beinen, sei es durch die Herausforderungen der Erderwärmung oder den Zerfall der Infrastruktur (die Heizung des Redners ist seit 14 Tagen bei Frostgraden ausgefallen).
Und doch hatte die Moderne auch die Tropen nachhaltig geprägt. Wie das „Moderne“ ist auch der Begriff des „Tropischen“ ambivalent besetzt. Einerseits wird er mit der Exotik von Sehnsuchtsorten in Verbindung gebracht, dem „Traumstrand mit Palmen“. Andererseits schwingt mit ihm das nicht nur geografisch, sondern auch epochenmäßig Fremde mit, das mit kolonialem Überlegenheitsgestus auch als „wild“ gedeutet wird. Zum Teil sind die äquatorialen Gebiete heute tatsächlich krisengeschüttelte Zonen, geprägt von Armut, Gewalt und Naturkatastrophen (alles das kann uns in Europa auch passieren und das tut es auch). Jedenfalls erscheint nun das „Moderne“ hier erst einmal als Fremdkörper, das „Andere“: Die „Tropische Moderne“ konnte als Ergebnis eines wohlmeinenden Missionsgedankens daherkommen oder einen ausbeuterischen Kolonialismus repräsentieren – und dies durchaus mit Übergängen. Zugleich, und das reduziert sich nicht auf Äußerlichkeiten, bietet das universalistische Konzept der Moderne im Bewusstsein für seine nicht nur europäischen Wurzeln Ankerpunkte für ein Aufnehmen des Regionalen, auch in der Ferne. Und damit öffnet sich eine Möglichkeit für eine Umdeutung im Sinn einer Selbstfindung der Menschen im globalen Süden.
Aber wie nun kam diese Moderne in die tropischen Breiten? Nicht nur dort impliziert dies die Frage nach den Bauherren und Planern, der Machtstruktur, den zirkulierenden Ideologien – aber nicht weniger nach den Menschen, die die Gebäude nutzten und veränderten. Die Antworten fallen je nach Zeit und Ort unterschiedlich aus. Aber je kritischer man hinschaut, desto deutlicher werden die Schatten der kolonialen Geschichte.
Mit den Fotos von Jean Molitor wird uns diese Vielfalt nähergebracht. Dazu sollen sechs grundsätzliche Gedanken Anregungen liefern:
1. Die Ankunft von Konzepten der Moderne in den Tropen begann mit dem Import europäischer Ideen, sei es durch eine Architektur für die weißen Eliten, wie im Falle Eritreas unter der faschistischen Herrschaft Italiens, sei es als eigenständige Modernisierungsbewegung, wie sie in Lateinamerika oder Japan stattfand. Dies geschah nicht nur durch Eroberung, sondern in nicht geringem Maß über den Welthandel vermittelt – oder als Solidaritätsleistung, wie im Engagement der DDR in den „Jungen Nationalstaaten“ (z.B. Ghana, Guinea, Sansibar). In jedem Fall trafen Impulse von außen auf eine komplexe Architekturlandschaft aus indigenen und vormodern-kolonialen Herangehensweisen.
2. Die traditionelle Alltagsarchitektur wurde vielerorts verdrängt, aber oft erwies sie sich als typologisch langlebig und im Sozialgefüge verankert und wirkt bis heute in modernisierter Form weiter. Vieles von dem, was an den Reißbrettern modern geplant und unter Palmen gebaut wurde, ging (trotz tiefgründiger Funktionsanalysen) kulturell an den Bedürfnissen der Menschen vorbei, konnte nicht gepflegt werden oder veränderte sich im Zuge der Aneignung durch Zumauern, Anflicken und Abbruch.
3. Bereits seit den 1930er-Jahren begannen einheimische Auftraggeber und Architekten des Südens Ideen der Moderne Gestalt werden zu lassen – im Format und in der Formgebung zuweilen sogar radikaler als in Europa.
4. Der Moderne wohnt ein emanzipatorischer Impuls inne: Die moderne Architektur der 20er bis 70er-Jahre stand für einen Neuanfang im Zeichen des Fortschritts. Nicht nur in Bezug auf den globalen Süden kann dies als echtes emanzipatorisches Gesellschaftsprojekt gelesen werden (ob dies nun gelang oder nicht) wie in Brasilia. Oder als Form der privaten Abgrenzung von der Macht – wie die rasant modernen Stadthäuser im Angesicht der „altspanisch“ geprägten Staatsarchitektur der Ubico-Diktatur in Guatemala. Paradoxerweise, und dies war sehr häufig der Fall, konnte die ikonografische Aussage der Architektur als exklusiver Anspruch der kolonialen Oberschicht auf Zivilisiertheit gelesen werden, wie in Belgisch-Kongo. Das moderne „Image“ taugte sogar dazu, ein oligarchisches Terrorregime utopistisch zu bemänteln, so bei den Schalenbauten in Duvalierville (heute Cabaret) in Haiti.
5. Die Moderne als Bewegung in den Industrienationen schöpfte von Anfang an aus nichteuropäischen Quellen. So waren es die Expressionisten, die von der afrikanischen Kunst lernten, die Reformkunst um 1900, die aus dem struktiven japanischen Minimalismus schöpfte oder der Kubismus, der Einflüsse aus der arabischen Architektur aufnahm – erinnert sei an die Tunisbilder von Klee, Macke und Delaunay. Dies alles floss in die in Europa vorgedachten und bei Molitor im Licht des Südens strahlenden Variationen moderner Architektur ein, in organisch-dynamische, kristalline oder reduktionistische Formenauffassungen.
6. Blickt man hinter die Wolkenkratzer von Dubai oder Singapur, findet man eine Geschichte moderner Architektur im globalen Süden und nicht nur dort, die um die Einbeziehung tradierter Ansätze in Funktionserfüllung und Gestalt ringt. Zeigte sich dies in den 1950ern schon, beispielsweise in Mexiko, in räumlichen Arrangements und im lebendigen Fassadenausdruck, ist es heute die Einbeziehung von Low-Tech-Lösungen bei klimatisch optimierten, subsistenzorientierten Bauweisen, so in der Adaptionen der Lehmarchitektur oder durch Aufbauten zur energiesparenden Luftzirkulation.
Die Hervorbringungen der „Tropische Moderne“ stellen mehr dar als eine Ansammlung in ihrem Überschwang z.T. skurriler Gebäudeformen. Sie besitzen (im günstigen Fall) immer noch ihren Gebrauchswert, sind Quelle für die kritische Rezeption einer oft schmerzlichen Geschichte und wirken in ihrer zukunftsfrohen Verve dennoch inspirierend. Trotz der kolonialen Ungerechtigkeit, die auf manchen dieser Zeugnisse lastet: Wie Maschinenstürmerei ist „Modernestürmerei“ der falsche Weg. Vielmehr kommt es darauf an, die Errungenschaften der Moderne mit Bedacht und für alle nutzbar zu machen. Dies ist nicht der schlechteste Grund, diese Bauten als Erbe des 20. Jahrhunderts zu schätzen und zu schützen.
Andreas Butter