Vom Ende der Solidarität
`Der Verräter, Stalin, bist Du.` Mit diesen Worten schließt am 22.09.1939 der Artikel `Der russische Dolchstoß` von Willi Münzenberg in seiner in Paris erscheinenden Zeitschrift `Die Zukunft`.
Mit dem Hitler-Stalin-Pakt – so Münzenberg – haben die Entwicklungen der dreißiger Jahre in Sowjetrussland eine `eindeutige, furchtbare und blutige Deutung erfahren`. `Welche Absichten auch immer Stalin vorgeben mag und welche Absichten er auch immer.. gehabt hat, mit der demokratischen Friedenspolitik.. hat diese imperialistische Gewaltmethode nichts zu tun.`
Es war Münzenberg, der 1921 angesichts der Hungerkatstrophe an der Wolga und auf direkte Bitte Lenins, in Westeuropa die `Hungerhilfe für Sowjetrussland` initiierte und damit vor einhundert Jahren einen wesentlichen Grundstein für eine weltweite Solidaritätsbewegung mit den Menschen in Sowjetrussland legte. Hundertausende haben das Wenige, was sie hatten, geteilt, um Sowjetrussland zu unterstützen, haben aufgeklärt über imperialistische Einkreisung, Folgen von Embargo und über Errungenschaften des Neuen. Sie haben diese Neue verteidigt gegen Vorwürfe und Anfeindungen, auch gegen eigene Zweifel.
Die Leistungen und Opfer der Völker der Sowjetunion bei der Vernichtung des Faschismus und der Befreiung Europas haben die Grundlagen dieser Solidarität auf viele Jahrzehnte verfestigt.
Wir, die wir in die Zeit nach 1945 hineingeboren wurden, wurden vor diesem Hintergrund geprägt. Wir haben Bedenken an Geist und Handeln sowjetischer Politik – z.B am Einmarsch in Afghanistan – angesichts von Rüstung und Handlungen westlicher Staaten, insbesondere der USA, und vielfältiger Spannungen in der Welt beiseitegeschoben.
Auch in der Zeit nach Zerfall der ehemals `sozialistischen Staatengemeinschaft`, dem Zerfall der Sowjetunion und der Errichtung einer russischen Föderation auf dem Fundament orthodoxer Religiosität und privater Aneignung ehemals staatlichen Eigentums haben wir uns diese Verbundenheit zu diesem Land bewahrt. Für uns blieb Russland das Land der Befreier. Das Land, das für Frieden steht. Auch als uns geöffnete Archive dieses Landes offenbarten, dass es die Paranoia der Führung unter Stalin war, die Hundertausende Menschen, die dieses Land, unabhängig von ihrer Herkunft, Nationalität, ihrem Beruf, Parteizugehörigkeit etc, mit aller Kraft unterstützen und verteidigten, in Lager sperrte, verhungern ließ oder schlicht ermordete, haben wir versucht, das Unfassbare zu verarbeiten.
Wir haben die antikommunistisch determinierte und in den letzten Jahren sich verstärkende Russophobie in der Bundesrepublik bekämpft. Wir haben uns mit unserem Engagement für Verständnis und für Respektierung der legitimen Interessen der russischen Föderation eingesetzt. Für Dialog und Verhandlungen zur Auflösung von Streitigkeiten. Wir haben Aufrüstung und Ausdehnung der NATO abgelehnt. Wir haben uns für die Achtung der KSZE-Akte als Grundlage des friedlichen Lebens in Europa engagiert. Wir haben gegenseitigen Handel unterstützt.
Wir haben jedoch mit wachsender Sorge und Unverständnis das Agieren Russlands gegenüber heute national eigenständigen ehemaligen Sowjet-Republiken im letzten Jahrzehnt gesehen. Wir haben die Repressionen gegen jede innere Opposition, das Agieren mit Verboten und konstruierten Anklagen gegen kritische Organisationen und ihre Stigmatisierung als ausländische Agenten kritisiert. Aber wir haben darauf gehofft, dass am Ende Friedenspolitik der Kern des rationalen Handelns Russlands bleiben möge. Wir haben immer wieder für den Dialog ohne Wenn und Aber plädiert und gegen das internationale Schlafwandeln in eine irreparable Konfrontation argumentiert.
Wir sind bis zum Schluss davon ausgegangen, dass die heutige Führung Russlands mit einem Angriff auf die Ukraine nicht die größten Errungenschaften sowjetrussischer Außenpolitik, die in der UN-Charta nach diesem II. Weltkrieg verankerten Prinzipien des Völkerrechts, vollständig über Bord werfen wird.
Sie hat.
In den Reden und Handlungen der heutigen russischen Führung müssen wir erkennen, dass sie mit allem bricht, was aus den widersprüchlichen Wirken der Bolschewiki an Positivem für die Weltgeschichte fortbesteht. Vor allem mit jenem Prinzip, das im ersten Dekret der Sowjetmacht 1917 mitten in einen großen, weltweiten Krieg hallte – FÜR DEN FRIEDEN und die friedliche Beilegung internationaler Konflikte. Einem Prinzip, dem die Regierung der Bolschewiki im harten eigenen Ringen um eben dieses Friedens willen mit dem Vertrag von Brest-Litowsk Rechnung trug.
Die heutige russische Führung zerstört jeden Ansatz einer von Achtung der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung geprägten Nationalitäten- und zwischenstaatlichen Politik. Sie zeigt klar ihre antikommunistische Position als Kämpferin für die Neuaufteilung der Welt, die nahtlos an großrussischem Denken und Handeln des von uns für immer beseitigt geglaubten Zarenreichs anknüpft, bezieht sich gleichzeitig explizit wieder auf Stalin und legitimiert damit konkludent die Verbrechen dieses Systems. Fast schizophren trifft sie sich mit ihren Gegnern, in dem sie Lenin zur zentralen Figur allen Übels verlorenen Terrains erklärt.
Damit fällt die letzte Brücke, die unser Verständnis von Russland und seiner Politik noch mit jenem Ursprung des solidarischen Verhältnisses, das in der Hilfe für Sowjetrussland seinen ersten Ausdruck fand, verbindet.
`Die Folgen des schändlichsten Verrats sind heute noch unabsehbar. Es ist der schwerste Schlag, den… die Front des Friedens und Freiheit erhalten hat`, so Münzenberg in seinem Artikel. Heute liefert dieser Verrat die Vorlage für relevante Kräfte in westlichen Ländern, unter Apostrophierung einer `Zeitenwende` eine schon lange gewünschte und geforderte neue Rüstungsspirale in Gang zu setzen und und dem sich seit Jahren ausbreitenden Nationalchauvinismus neuen Schub zu verleihen. Vermeintlich legitimiert durch das adäquate Eintreffen ihrer Prophezeiungen über das zu erwartende Handeln dieser russischen Führung und so ihre eignen Völker auf weitere `notwendige` Gegenreaktionen einschwörend und sich so am weiteren Neuaufteilungsprozess beteiligend.
Wie zu Zeiten Münzenbergs liegt heute klar auf dem Tisch, Herrschende egal welcher Couleur und welchen Landes sind keine Garanten für Frieden und Freiheit für alle Menschen. Dafür bedarf es der Solidarität dieser Aller über alle Grenzen und alles scheinbar Trennende hinweg. Das ist die Lehre aus jenen Entwicklungen, die vor genau einhundert Jahren den Ausgangspunkt für eine weltweite Solidarität der Vielen setzten.
Und wie zu Zeiten Münzenbergs ist es das Vorgehen Russlands, das es nahezu verunmöglicht, im lauten übergreifenden einhelligen Tenor divergierender Akteur:innen, Positionen, Interessen und Ziele der Reaktion auf die russischen Handlungen dieser unserer Position Gehör zu verschaffen. Wir wissen, dass die Bedingungen dafür in der kommenden Zeit nicht leichter werden. Wir werden dennoch nicht aufhören.
Dr. Matthias Schindler