Fremd bin ich eingezogen
Wir beteiligen uns vom 29.09. – 30.10.2016 zum 3. Mal mit einer Ausstellung am Europäischen Monat der Fotografie in Berlin. Der Titel der Ausstellung „Alles in schönster Ordnung“ nimmt Bezug auf eine Collage John Heartfields vom Juni 1933, die ein Gipfeltreffen westeuropäischer Politiker vor dem Hintergrund eines aus den Fugen geratenen Europas zeigt. Im Zuge dessen riefen wir zu einem Fotowettbewerb auf. Eingesendete Werke können jetzt im Foyer des FMP1 am Franz-Mehring-Platz 1 bestaunt werden. Die zum Wettbewerb gehörende Preisverleihung findet am 11.10. statt. Dort wird Dr. Gregor Gysi eine Rede zur Lage Europas halten. Dazu seit ihr natürlich auch herzlich eingeladen. Der Eintritt ist frei. Im Rahmen unserer Ausstellung, zeigt auch die Fotografin Ekaterina Sevrouk mit Ihrer Serie Fremd bin ich eingezogen ihre Werke in den Räumen des FMP1. Angelehnt an Landschaftsbilder der Romantik dokumentiert sie afrikanische Migranten im Salzkammergut.
Ein Kommentar zur Fotoserie „Fremd bin ich eingezogen“ von Prof. Dr. Schmalriede
„Mit der ersten Zeile eines Gedichts von Wilhelm Müller – vertont von Franz Schubert in seiner Winterreise – beginnt Ekaterina Sevrouk ihr Projekt zum Problem der Migration, aktuell ausgelöst durch kriegerische Auseinandersetzungen im Nahen Osten.
In der Geschichte der Menschheit haben Wanderungen ganzer Völker eine große Rolle gespielt. Die Dynamik der Wanderungen hat Kulturen entstehen und untergehen lassen. Migration als Emigration oder Immigration, als Flüchtling oder Vertriebener, alles hat die Menschheit in Bewegung gehalten. Angesichts der Flüchtlingsströme ist die Diskussion darüber entbrannt, wie die betroffenen Menschen unter dem Eindruck solcher Ereignisse agieren und reagieren.
Wir haben uns daran gewöhnt, fremde Länder als kulturelle Einheiten zu begreifen, geprägt durch gesellschaftliche Phänomene. Das beobachtete Verhalten der Menschen im privaten, öffentlichen oder religiösen Leben, ihre Gewohnheiten, ihre Architektur, ihre Transportmittel verdichten sich für uns zu einem Bild, das durch den Namen des Landes oder des Volkes kategorisiert wird. Wir identifizieren die Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, der geografischen Lage ihrer Länder oder des Klimas. Reisen in fremde Länder beeinflussen solche Vorstellungen und festigen unsere Vorurteile. Dabei ist selbstverständlich, dass Fremde als Touristen oder Geschäftsreisende zu uns kommen. Doch wir sind irritiert, wenn Menschen aus ihrem Land flüchten und bei uns um Asyl nachsuchen.
Ekaterina Sevrouk hat ihr Projekt mit einer Serie von Fotografien realisiert. Sie hat Asylsuchende in einer Einrichtung zur Erstaufnahme im Salzkammergut getroffen, die bereit waren, an ihrem Projekt teilzunehmen.
Ihr Einstieg in die Problematik war eine Konfrontation des Fremden mit dem uns Vertrauten. So wählt Ekaterina Sevrouk die Alpenlandschaft als vertraute Umgebung, die für uns touristisches Ziel und für viele Menschen Inbegriff unserer Vorstellung von Natur ist. In diese Bergwelt stellt sie dunkelhäutige Flüchtlinge, Schwarzafrikaner, vor ihre Kamera, Menschen, die in diesem Ambiente für uns fremd wirken. Wie reagieren wir auf das Fremde in unserer vertrauten Umgebung und wie erleben die Fremden unsere Welt? Und neuerlich behaupten Rechtsextremisten, sich unter den vielen Zugewanderten fremd im eigenen Land zu fühlen.
Für die Inszenierung greift Ekaterina Sevrouk auf Vorbilder aus der Kunst zurück, in denen modellhaft unterschiedliche Beziehungen von Mensch und Natur dargestellt werden. In der Romantik entdeckten Künstler die Landschaft durch Wandern. Sie erlebten die Welt unmittelbar in physischer und emotionaler Nähe. Sie reflektierten ihr Verhältnis zur Natur in Zeichnungen und Gemälden oder in Prosa und Poesie. Wir haben auf diese Weise Zeugnisse unterschiedlicher Einstellungen zur Umwelt.
Eine extreme Position der Beziehung des Menschen zur Natur und besonders zur unendlichen Weite der Landschaft hat Caspar David Friedrich erfunden. Der Mensch steht isoliert, verloren und einsam in der Landschaft. Das gilt vor allem für seine Bilder „Mönch am Meer“ und „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Während Joseph Anton Koch in der Schweiz die Alpen erlebt und sie in ihrer Größe dargestellt hat, gestaltete Caspar David Friedrich seine Landschaften im Atelier nach eigenen und fremden Skizzen. Er gestaltete Phänomene des Unendlichen durch Farbabstufungen, Tiefenstaffelungen der Landschaftselemente oder diffuse Atmosphäre. Die Präsenz des Menschen in Relation zur Landschaft wurde als eine metaphorische Beziehung von „innen und außen“, als „Seelenlandschaft“ interpretiert. Ähnlich schaffen die Gebirgslandschaften von Caspar Wolf, J.A. Koch und C.D. Friedrich das ästhetische Phänomen des Erhabenen.
Unser Verhältnis zur Natur wird wesentlich durch Tun und Handeln bestimmt. Ein Wanderer erlebt und entdeckt Natur, während ein Bauer sie bearbeitet und als Grundlage seiner Existenz betrachtet. Es entstehen unterschiedliche Lebensräume. Die Vertrautheit mit der Umgebung schafft Nähe und Übersicht, Geborgenheit und Schutz. Die Idylle wurde erfunden. Die Romantiker führten das Verhältnis des Menschen zur Natur in beschaulich inszeniertem Rahmen vor. Doch die Versatzstücke einer Idylle können ebenso eine prekäre Situation heraufbeschwören, wenn dichtes Gebüsch, dunkler Wald oder raue Felsen den Hintergrund bilden und Menschen davor verloren, isoliert oder wie gefangen erscheinen.
Was uns in den fotografischen Darstellungen fremd vorkommt, entsteht aus der Diskrepanz von vertrauter Umgebung und fremd wirkenden Menschen, ist folglich ein Produkt unserer Beobachtung. Wie die fremden Menschen sich fühlen, darüber können wir nur spekulieren. Was erleben die Flüchtlinge? Und was erleben sie, wenn sie solche Bilder sehen?
Von außen betrachtet, setzen wir Bildmodelle der Romantik voraus, von denen wir annehmen, es geht um unterschiedliche Beziehungen des Menschen zur Natur. Der Mensch ist konform mit seiner Umgebung oder er tritt als Fremder in Erscheinung. Die Art und Weise wie Ekaterina Nazarowa sie in der Landschaft inszeniert hat, ruft in uns Gefühle wie Verlorenheit, Isoliertheit, Einsamkeit, vielleicht auch Angst hervor. Und wir haben die Vorstellung, dass dies auch die Gefühle der fremden Menschen sind. Unter diesen Voraussetzungen sind für uns die Bilder ein Beleg für deren gegenwärtigen Zustand, der die Basis sein könnte, die Schicksale der Menschen in Erfahrung zu bringen und von der vermeintlichen Konfrontation, die immer auch Irritation erzeugt, über Wege der Integration nachzudenken. Doch um die Fremdheit zu überwinden, wäre ein langer Prozess der Assimilation notwendig.
Können fotografische Bilder diesen Beitrag zum Thema Fremdsein in vertrauter Umgebung leisten? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Ekaterina Sevrouk nimmt das ausdrücklich in Kauf. Denn was mit den Bildern gezeigt werden kann, sind unterschiedliche Konstellationen zwischen Menschen und Natur, zumindest von uns als unterschiedlich interpretiert. Antworten geben die Menschen erst mit ihrem zukünftigen Verhaltens, und wir mit unseren Reaktionen.
Solch ein Phänomen mit Fotografie darzustellen, gelingt, wenn die Inszenierungen vor der Kamera einen Moment erfassen, der als symbolischer Höhepunkt für mehr steht als ein singuläres Ereignis. Ekaterina Sevrouk hat einen Moment gewählt, der in der Malerei der Romantik das Verhältnis Mensch und Landschaft auf unterschiedliche Art symbolisiert. Wir können daher fiktiv die Haltung eines Flüchtlings einnehmen, die in uns Empathie erzeugt, um so vielleicht handelnd den Prozess der Assimilation zu begleiten.
Mit Fotografien lassen sich zukünftige Perspektiven entwerfen. Aus dem Projekt könnte folglich ein Programm entstehen. Es hängt von den Schlussfolgerungen ab, die den Prozess auf das Ziel dieses Projekts lenken, die hoffnungslos erscheinende Situation der Asylsuchenden zu überwinden und dort einzugreifen, wo Resignation sich auszubreiten droht. Die Folgerungen können jedoch auch anders verlaufen. Denn aus romantischer Sicht könnten Resignation, Einsamkeit, Furcht, Trauer oder Melancholie Ziele des symbolischen Verhaltens sein. Doch nicht das Bild erzählt die Geschichte, sondern die Autorin. Und sie setzt voraus, dass wir Betrachter mit dem Kontext und den symbolischen Vorgaben der Romantik und dem eigenen symbolischen Verhalten vertraut sind und daher auch in der Lage sein sollten, die Geschichte zu erzählen. Deutlich wird aber auch, dass eine fotografische Bildsprache sich erst über längere Zeiträume entwickelt und Konventionen schafft, die Voraussetzung für die Symbolisierung der Bilder sind. Die Romantik hat daher großen Einfluss auf die zeitgenössische Fotografie sowohl im Hinblick auf das Ästhetische als auch auf die Möglichkeiten der Interpretation.
Das Interesse der romantischen Künstler an der sichtbaren Welt war der entscheidende Schritt. Naturwissenschaftliche Interessen hinsichtlich der Meteorologie in Form von Wolkenstudien waren ebenso angesagt wie die emotionale Identifikation der Menschen mit der Natur und ihren Prozessen. Die Erfindung der Fotografie durch William Henry Fox Talbot war offensichtlich eine Folge dieses Interesses. Doch die sichtbare Welt musste erst einmal „gesichtet“ werden. Zunächst wurde sie durch die Bilder segmentiert, und die rechteckigen Ausschnitte mussten geordnet werden, um Identifikation und Lesbarkeit möglich zu machen.
Trotz Symbolisierung der Bilder bleibt ein ästhetisches Erleben möglich. Die Natur gezeichnet, gemalt und schließlich fotografiert bietet Strukturen und Muster für ästhetische Wahrnehmung auf einer Ebene, auf der Symbole nicht relevant sind. Diese Ebene markiert das eigentliche Bild, auf der die Formelemente geordnet werden. Der Unterschied zwischen wahrgenommener Natur und ihrer Abstraktion durch das Bild wird relevant. In der Landschaftsmalerei wurden häufig Menschen im Bild als Staffage dargestellt, um die Landschaft größer erscheinen zu lassen. Doch die Romantiker sahen die Möglichkeit, die Indifferenz des Ästhetischen auf der symbolischen Ebene interpretierbar zu machen. In dieser Situation ist die figurative Erscheinung des Menschen ein besonderes Phänomen, denn Haltung, Gestik oder Mimik sind uns im täglichen Leben als Basis der Kommunikation und als Potential aller Interpretation vertraut. Der Unterschied gegenüber einer Filmsequenz macht deutlich, was die Interpretation bedeutet. Mit dem Film zeigen wir kommunizierende Menschen, die durch den Fluss der Interpretation die Handlung voranbringen und wir sind Zuschauer des Geschehens. Mit einer Fotografie wird ein prägnanter Moment fixiert, der das Potential der Interpretation bietet, aus dem der Betrachter seine Interpretation handelnd realisieren kann.
Ein Grund warum die Fotografie noch nicht von den laufenden Bildern verdrängt worden ist.“
Manfred Schmalriede